Sunlight im Norden: Stralsund mit Hanni, Thomas und einem Live-Orchester
Freitag, 13. bis Montag 16. August 2021
Schlafen unter der Brücke
Die Fahrt nach Stralsund verläuft unter striktem Schweigen. Obwohl lauter vom Segeln bekannte Namen von Autobahn-Abfahrten an uns vorbeiflitzen, ist das Meer nirgends zu erkennen. Eindrücklich ist das Schild, welches den Standort des ehemaligen Grenzzauns zwischen der DDR und der BRD angibt. Auch das Tessin und die Mecklenburgische Schweiz kommen an uns vorbei. Vermutlich heisst es Têssin, mit Betonung auf dem E.
Beinahe an unserem Ziel angekommen, ist es doch nicht vorhanden. Aber der Parkplatz-Wächter hat ein Einsehen und erklärt uns, wie wir zu unserem Stellplatz kommen würden. Seine Anweisungen zum Teil befolgend, landen wir auf einem Platz mit Kasse in einer ehemaligen Telefonkabine, statt einer Rezeption und immerhin Entsorgungsmöglichkeit, doch nicht auf dem geplanten Campingplatz, welcher, wie wir später entdecken, noch etwa hundert Meter um die Ecke liegt. Egal, es ist gut hier, wir sind ja an sich autark, können hier aber Strom beziehen, Toilette und Grauwasser entsorgen und vor allem auf den Rädern in die Stadt fahren.
Wie 2017 liegen wir wieder fast direkt unter der neuen Rügenbrücke. Diesmal im Camper, vor vier Jahren, beim Einbau der Instrumente, auf der BonBini: Schlafen unter der Brücke.
Gorch-Fock I vom «Anker» aus
Auf den Sattel und los Richtung Stadt. Wir binden die Räder vor dem Anker fest und wundern uns über die neue Aussicht. Das letzte Mal, als wir im 2019 hier waren, lauschten wir der Musik beim Sonnenuntergang, doch diesmal steht da ein riesiger weisser Stahl-Block im Weg. Wie fanden wir doch die Gorch-Fock I jedesmal einmalig schön und edel, als sie auf der anderen Seite der Mole Richtung Osten stand. Doch jetzt, wegen Bauarbeiten an jenem Hafenbecken ist sie, immer noch in strahlender Schönheit, auf die andere Seite, Richtung Westen verlegt worden und behindert jeden Ausblick auf den Yachthafen und die Insel Hiddensee. Das ganze Hafenkino ist uns entnommen.
Gorch Fock festgemacht an der Mole vor dem Anker. |
Musik auf der Mole vor dem Anker
Das Abendessen nehmen wir in der gegenüberliegenden Pizzeria ein, bevor wir für die Musik wieder auf der Mole vor dem Anker sitzen. Die mit Gorgonzola gefüllten und überbackenen Champignons schmecken phantastisch, sind aber in der Vorspeisen-Grösse ein ganzes Menue wert. Je nun, die bestellte, aber nur halb aufgegessene Pizza lassen wir uns einpacken.
Vom Life-Konzert senden wir Kostproben an die drei Wädenswiler Herren, welche inzwischen Pech mit ihrem Boot haben: Die Steuerbord-Bugschraube verweigert sich genau im Hafen beim Anlegen. Doch der Fehler ist schnell gefunden und behoben, mit Kontaktspray. Zum Glück.
Weil neben unserem Tisch eine Gruppe mit lautesten Stimmen versucht, die Musik zu überschallen, ziehen wir uns in den Vordergrund zurück, wo ein Skipper den Abend verbringt. Er sei mit seinem trailerbaren Boot seit Mai unterwegs, mehrmals hier, aber auch in Schweden und warte nun auf die neue Crew, welche am Sonntag käme, um gemeinsam nach Hiddensee zu segeln.
«Zur Fähre»
Später verholen wir uns «Zur Fähre», zu Hanni, welche wir am Nachmittag schon kurz vor der Kneipe trafen. Der Spaziergang führt über den Töpferei-Markt auf dem Hauptplatz vor dem Rathaus, der uns aber nicht sonderlich interessiert. Doch der mit wunderbaren Düften unsere Nasen kitzelnde Kräuterstand gewinnt unsere ganze Aufmerksamkeit. Nur können wir heute nichts mitnehmen. Das muss warten. Das Wasser läuft einem schon im Munde zusammen.Maske zu tragen ist, überall unter Androhung von Rausschmiss zu lesen und zu hören, Pflicht. Also halten wir uns auch in der Fähre daran. Doch Hanni meint, statt der Begrüssung, sie kenne uns nicht und wiederholt es auch. Die schüchterne Frage, ob wir die Maske ablegen dürften, bejaht sie vehement. Wir dürfen uns zu ihr und ihren zwei Bekannten, welche mit Historie zu tun haben, setzen. Im Laufe des Abends erfahren wir, wie es Hanni in den Corona-Lock-Downs ergangen ist, dass sie nötige Instandsetzungen vorgenommen und dass ihre Tochter Franzi die Fähre übernommen hat. Hanni mache nur noch das Back-Stage, doch sie wohne ja direkt darüber. Ansonsten sei ihr Thema jetzt, die beinahe siebenhundertjährige Geschichte der Fähre – und damit auch diejenige Stralsunds und ihrer Einwohner - auf vielfältige Weise zu verbreiten: Referate in der Fähre selber, als Buch und als Erzählungen zudem in Schulen. Und nein, der Anker gehöre ihr nicht, sie habe nur geholfen, diese Kneipe aufzubauen. Jedenfalls wollen wir am Sonntag der Geschichte, anhand eines riesigen Buches diesmal, gerne wieder zuhören. Vor zwei Jahren sahen wir die Vergangenheit der Fähre anhand von Stabpuppen.
Thomas nimmt sich Zeit
http://www.thomas-service-stralsund.de
Die Kräuter sind eingekauft, ein Klaus (grins) und ein Hugo eingenommen, wir haben uns im Edeka eingefunden und warten nun auf dem Stellplatz auf Thomas, der sich doch noch Zeit nehmen kann für einen Besuch bei uns auf dem Stellplatz. Er hat uns vor vier Jahren die ganze neue Elektronik besorgt und eingebaut, zum Laufen gebracht und vor zwei Jahren, trotz Armbruch, auf den neuesten Stand gebracht. Der Skipper und Thomas Krutoff halten seither Kontakt und verstehen sich bestens. Er hatte deutlich weniger Arbeit mit Bootsunterhalt in den Lock-downs, weil die Kunden nicht zu ihren Booten durften. Umso mehr Aufträge überspülten ihn danach, sodass er beinahe Tag und Nacht arbeiten könnte. Wir vereinbaren, dass er sich melde, wenn er wieder nach Gross (Einsiedeln) fährt zu seinen Verwandten, damit wir uns dannzumal treffen können. Weil es nun zu regnen beginnt, gehen wir nach Thomas' Abfahrt früh in die Koje.
Nochmals zur Fähre
Wie damals anhand der Stabpuppen wird auch die diesjährige Darbietung fesselnd und emotional. Seit beinahe 700 Jahren (seit 1332, durch Archivzeugen beglaubigt und vom Rekord-Institut für Deutschland – RID - im Juni 2020 bestätigt) besteht die Fähre als älteste Hafenkneipe Europas durchwegs und blieb trotz aller Widerwärtigkeiten und obrigkeitlichen Auflagen und Steuern als Haus mit Schankrecht bestehen. Der Mittelpfosten, welcher Dach und Etagenböden trägt, ist dendrochronologisch untersucht und bestätigt die Urkunden.
Eine Künstlerin hat nach Vorgaben von Hanni und dem Historiker (Germanistik- und Geschichtsprofessor) wichtigste Etappen der Vergangenheit der Fähre und deren Pächter oder Eigner in einem grossformatigen Buch bildlich dargestellt. Hanni und Steffen Melle ergänzen sich bestens im Vortragen der Episoden und Quellen. Mit Pop-up-Bildern und Figuren werden Effekte erzeugt, welche die Aufmerksamkeit zusätzlich fesseln.
Das grossformatige Buch zeigt die Historie der Fähre in Bildern: Das Wirtshaus nahe beim Fähranleger |
Damit wir eingestimmt werden auf die Reise in die Vergangenheit, erhält jeder Teilnehmende ein Gläschen Kümmelschnaps, das seit sehr langer Zeit zum Bier gereicht werde. Bier, das nicht nur im alten Ägypten, sondern auch hier die Nahrungsgrundlage für alle bildete, weil das Wasser zu viele Keime enthielt. Die Bürger tranken den ersten Sud, der am meisten Alkohol enthielt. Der zweite, bereits verdünnt, aber noch einmal gesotten, wurde in den Schenken ausgegeben, wohingegen der dritte, mit dem geringsten Alkohol-Anteil an die Kinder ging. Ein Problem bot es noch stets, dem Bier Geschmack zu verleihen, wofür man in der Umgebung auf Kräutersammlung ausging. Doch diese Kräuter waren gesundheitlich nicht immer unbedenklich. Erst als der Hopfen hier auch angebaut werden konnte, wurde dieses Problem behoben.
Hanni beginnt ihren Vortrag mit einer Ansicht von Stralsund |
Andere Katastrophen kamen durch Kriege, welche dem Volk nicht nur Zerstörung brachten, sondern auch eminent höhere Steuern abverlangten. Pest und Pocken rafften einen Grossteil der Bevölkerung dahin. Während letzteren vor allem Kinder zum Opfer fielen, (600 von 8000 Einwohnern) raffte Erstere die Hälfte der Bevölkerung dahin. Um sie einzudämmen, wurden Menschen mit ersten Anzeichen von Pest (blaue Flecke oder Fieber) nach Dänholm (Insel zwischen Rügen und Stralsund) verbannt. Die höheren Bürger, welche sich diesem Reglement nicht fügen wollten, wurden festgenommen und dorthin verbracht, während deren Einrichtung auf die Äcker gebracht und vergraben wurde.
Grosse Katastrophen: Beschuss, Grossbrand, Pest und Pocken. |
Nebst dem Ausschank wird oft auch gehandelt. |
Danke, Hanni und Steffen für euren äusserst fesselnden und lebendigen Vortrag einer doch an sich eher trockenen Materie! Ob Puppen oder Buch, beides bringt uns einen unterhaltsamen, attraktiven Nachmittag, den wir so rasch nicht vergessen werden. Wenn man noch sehr lange an diese Vorträge erinnert bleiben möchte, erwirbt man sich das Buch von Steffen Melle und / oder bestellt sich das Parfum Zur Fähre 1332.
Hanni über der Fähre und Steffen rechts. |
Steffen, der mit Urkunden belegt, was Hanni berichtet. |